Berliner Unionsbürgerinnen in den jeux d’échelles der Europäischen Union Gleichbehandlung oder Diskriminierung im Zugang zur deutschen Grundsicherung
Nikola Tietze (mit Béatrice von Hirschhausen, Julio Velasco, Dilara Hadroviç und Camille Nous)
Es geht um den Zugang zu deutscher Grundsicherung für Unionsbürgerinnen in Berlin: Am 15. September 2015 erließ der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxembourg sein Urteil C-67/14 in dem Rechtsstreit „Jobcenter Berlin Neukölln gegen Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic“. Er interpretierte hiermit europarechtliche Normen der Gleichbehandlung neu und erlaubte den mitgliedstaatlichen Verwaltungen, arbeitssuchende Unionsbürger ohne Prüfung der individuellen Situation im Zugang zu Grundsicherungsleistungen gegenüber den Staatsangehörigen des Mitgliedstaats zu diskriminieren.
Vor dem Urteil hatte das Berliner Sozialgericht der schwedischen Unionsbürgerin und in Berlin lebenden Nazifa Alimanovic Grundsicherung zugesprochen, wogegen das Jobcenter Berlin Neukölln Einspruch beim Bundessozialgericht in Kassel einlegte. Das Bundessozialgericht fragte daraufhin den EuGH, ob es mit dem Europarecht zu vereinbaren sei, dass ein Mitgliedstaat auf seinem Territorium lebende Unionsbürger von beitragsunabhängigen und steuerfinanzierten Sozialleistungen wie der Grundsicherung ausschließt. Im Laufe des Streits zwischen dem Jobcenter Berlin Neukölln und der Familie Alimanovic traten verschiedene politische, soziale und rechtliche Geographien in Berlin, Kassel und Luxembourg in Beziehung zueinander. Es entstanden hierdurch Interaktionen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen, in verschiedenen Berufen und Verantwortungsbereichen und vor allem mit ungleichen sozialen Erfahrungen.
Der spannungsgeladene Raum dieser Interaktionen wird hier kartographisch rekonstruiert, zunächst im Blick auf Berlin und die Interaktionen, die den alltäglichen Kampf von Calina, einer Berliner Unionsbürgerin aus Rumänien, für Wohnen, Essen, Arbeit und Versorgung ihrer zwei Kinder charakterisieren (1. Karte: Calinas Berlin). Calina steht hier als Beispiel für Unionsbürgerinnen in der Situation von Nazifa Alimanovic. Dann geht es um die politischen und rechtlichen Verflechtungen, in denen die Berliner Konflikte über die soziale Integration von mobilen Unionsbürgerinnen in Deutschland geführt werden (2. Karte: „Sozialtourismus“? Familie Alimanovic in Kassel), und schließlich um die Auseinandersetzungen über den Zugang zu sozialen Mindestleistungen in der Europäischen Union (3. Karte: Gleichbehandlung oder Ausschluss? Berliner Unionsbürgerinnen in Luxembourg).
Die drei (auf Transparenten übereinander gehängten) Karten mit jeweils eigenen Maßstabsordnungen zeigen nicht nur die sich verändernden Akteure, die den Konflikt um den Zugang zu Grundsicherung in Deutschland führen, sondern werfen auch ein Licht auf die dynamischen Verschiebungen in der Definition und Bewertung der Integrationsprobleme von Unionsbürgerinnen.