Kartographische Propositionen. Tonkörper Berlin

von Marion Picker

„Work with the power around you, not against it“ (Allan Kaprow)

Die Ausstellung „Les voi.es.x de la carte/Tonkörper Berlin“ setzt vierzehn kartographische, sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Stadt Berlin mit einer Klangskulptur aus Interviews, literarischen Texten, Gebrauchstexten des Alltags, Musik und Stadtgeräuschen in Beziehung. Diese Installation überschreitet somit die traditionellen Grenzen zwischen Kunst und Sozialwissenschaften: Sie gehört sowohl in den Bereich der experimentellen Kunst, insofern sie einen kollektiven Körper aus Klang und visuellen Materialien bildet, als auch ins Feld der Sozialwissenschaften. Die gemeinschaftliche Ausstellung ist eine Dokumentation von Forschungsprojekten aus dem Centre Marc Bloch und zugleich auch ein Dispositiv, mit dem sich Wechselwirkungen von Kunst und Forschung befragen lassen.

Die hörbare Dimension dürfte das Erste sein, was an oder noch vor dem Eingang von der Installation wahrgenommen wird. Alles Weitere hängt von der Reaktion derjenigen ab, welche die Ausstellung besuchen. Die zu den einzelnen Kartenwerken gehörenden Klänge lassen sich als Appell auffassen: man kann ihnen bis zu den ihnen zugeordneten Orten und Lautsprechern nachgehen, sich einen Weg vorzeichnen lassen und sich auf diese Weise im Ausstellungsraum orientieren – oder sich einen anderen Weg, eine andere Haltung wählen.

Ausstellungen mit Installations-Charakter zeichnen sich bekanntlich unter anderem dadurch aus, dass die betrachtende Wahrnehmung einbezogen ist ins offene „Werk“, also: dass Besucher sich nicht davor, sondern darin befinden und dabei ebenso zu Teilnehmenden werden wie all diejenigen, die an der Erschaffung der Objekte, Informationen und Tonspuren beteiligt gewesen sind. Uns geht es jedoch weniger um eine mittlerweile zur Standardformel gewordene Interaktivität als um die Erkundung der subtilen Beziehungen zwischen lokalisierten Objekten, Bildebenen und Ereignissen. Dazu gehört es auch, dass der erwähnte klangliche Appell nicht als Aufforderung, sondern als Einladung, Vorschlag und Anregung gedacht ist: was auch immer sich dann ereignet, und sei’s nichts, das Ereignis nimmt keinen Schaden. Sollte sich die Besucherin oder der Besucher entscheiden, nicht auf den Appell einzugehen, oder, was besser wäre: diesbezüglich eine Ambivalenz oder ein Zögern zu verspüren, dann entspricht dies durchaus unserem Konzept. Eine unbeteiligte Beobachterposition, wie sie lange Zeit sowohl für einen Museumsbesuch als auch in der wissenschaftlichen Beobachtung als verbindlich galt, hat nämlich Parallelen zu einer Kartographie, bei der eine entkörperlichte, einheitliche Betrachterposition vor der „Welt“ der Karte stillschweigend als Norm für die Rezeption gesetzt war, auch wenn die Lektüre von Karten von jeher ihren besonderen Reiz gerade aus einer doppelten Raumerfahrung bezieht, nämlich gleichzeitig vor und in der Karte zu sein. Diese körperliche und kognitive Ambivalenz im Umgang mit Karten möchten wir auf mehrfache Weise hervorheben.

Schon in den ersten Gesprächen mit Julio Velasco über das Ausstellungsprojekt war uns aufgefallen, dass mindestens seit Allan Kaprows Würdigung von Jackson Pollock die Auseinandersetzung der Installationskunst mit dem immersiven Aspekt des Kunstwerks ihre Entsprechungen in der kritischen Kartographie hat. Bei dieser handelt es sich um einen in den Sozialwissenschaften verankerten kartographischen Ansatz, der Karten als Machtinstrumente auffasst und als solche kritisiert. Historisch – zum Beispiel in kolonialen Kontexten – konnten Karten insbesondere deswegen ihre Wirkung entfalten, weil sie als objektive Repräsentationen von sozialer und naturräumlicher Wirklichkeit galten, obwohl ihre Herstellung traditionell in der Hand von Eliten lag, die zugleich auch einen privilegierten Zugang zu den zugrundeliegenden Daten hatten. Kritische Kartographie existiert sowohl in dezidiert theoretischer Form als auch als kartographische Praxis, allerdings mit einer Vielfalt von Verfahren, unter denen auch künstlerische Ansätze ihren Platz haben. Kunst und Kartographie standen von jeher in enger Beziehung zueinander, auch wenn näher zur Gegenwart hin die wechselseitige Beeinflussung oft erst nachträglich anerkannt wurde, so sehr sie auf der Hand lag: einerseits wurden kartographische Verfahren und Problemstellungen von Kunstströmungen wie Land Art und Environment, aber auch von der Psychogeographie der Situationisten übernommen; andererseits inspirierten Happenings und Performance Art die ab den 1970er Jahren entstehende kritische Kartographie dazu, Karten nicht nur wahlweise als dekorative historische Zeugnisse, technische Hilfsmittel der Orientierung oder wissenschaftliche Instrumente zu betrachten, sondern das Augenmerk auf ihre mediale und intermediale Verfasstheit, auf die ihnen eigene Epistemologie zu richten und damit einhergehende Institutions- und Machtstrukturen zu untersuchen.

Eines der wichtigsten Postulate der kritischen Kartographie ist, dass es nicht „die“ Karte von etwas, sondern allenfalls „eine“ Karte davon gibt. Kartographie wird immer auch dadurch kritisch, dass sie die Arten der anderen anerkennt, Welt wahrzunehmen. „Welt“, das ist im diesem Fall: Berlin. In der Ausstellung „Les voi.es.x de la carte/Tonkörper Berlin“ geht es
jedoch nicht darum, Berlin in irgendeiner Form thematisch einzufangen. Die Karten und Tonspuren der einzelnen Projekte bieten zwar spezifische und verbindliche Wahrnehmungen der Stadt, mit diesen Darstellungen geht jedoch kein Anspruch auf Repräsentativität einher. Die möglichen „Wege der Karte“ in dieser Ausstellung führen denn auch von traditioneller Kartographie zu einer Erprobung dessen, was Karten in einem sozialwissenschaftlichen Rahmen leisten können, wenn sich der Kartenbegriff öffnet und der Status der Karte selbst in den Blick rückt, und nicht nur allein das, was sie zeigt oder zur Wahrnehmung bringt.

Stellt unsere Klang- und Karteninstallation eine Art Meta-Kartographie im Sinne der kritischen Kartographie dar, so dokumentieren die einzelnen Projekte die kartographische Dimension sozialwissenschaftlicher Forschung am Centre Marc Bloch. Deren Vielfalt wird in unserer Ausstellung in Ausschnitten sichtbar, und zwar nicht nur im Hinblick auf die vertretenen wissenschaftlichen Disziplinen. Die einzelnen Beiträge gehen von soziologischen, anthropologischen, historischen, geoinformatischen, geographischen, architektonischen, kulturwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen und nicht zuletzt genuin künstlerischen Ansätzen aus, aber jeder von diesen zeichnet sich eher durch eine Offenheit in Bezug auf andere Disziplinen aus als durch monolithische Methoden. Darüber hinaus werden einige der Sprachen, in denen die Projekte durchgeführt werden, in den Aufnahmen der Klanginstallation hörbar: die beiden Sprachen des Centre Marc Bloch, Deutsch und Französisch; häufig auch Englisch; dann die verschiedenen Sprachen, die von den „Centristes“ selbst gesprochen werden, deren Herkunft sich bei weitem nicht auf Deutschland und Frankreich beschränkt; und schließlich diejenigen Sprachen, die sie für ihre Projekte und den wissenschaftlichen Austausch benötigen – einschließlich derer, die von den Personen gesprochen werden, mit denen sie Interviews zusammenarbeiten und denen sie zuhören.

Die Auswahl der für sozialwissenschaftliche Projekte geeigneten kartographischen Formen ist durchaus auch eine Form des Zuhörens. Sie ist auf jeden Fall ein gehöriges Stück Übersetzungs- und Übertragungsarbeit.

In unserer Ausstellung haben historische Karten und Stadtpläne ebenso ihren Platz wie experimentelle Projekte, die sich nicht alle unter der recht vagen Terminologie des „mapping“ fassen lassen wollen, aber mit partizipativen Methoden, animierten Karten, Kartenskulpturen und -installationen, emotionalen und kognitiven Karten, Kartogrammen, Diagrammen, Klanglandschaften, dem Austesten von verschiedenen Maßstäben und selektiven Darstellungen wie Schwarzplänen arbeiten. Die meisten dieser Verfahren sind am Do-It-Yourself orientiert und jeder und jedem weitgehend über open data, Gratis-Software und erschwingliches Ausgangsmaterial zugänglich.

Dass wir unseren Ansatz in der kritischen Kartographie sehen, ist also weniger einer einheitlichen Anwendung von kartographischer Gegen-Praxis wie beispielsweise dem „mapping back“ gedankt als dem Umstand, dass eine Vielzahl von Kartentypen versammelt sind, die in der Klangskulptur in einer Konstellation und in Übertragungen zusammentreten, ohne ihre Eigenheiten aufzugeben. Gleichermaßen zeichnet sich in den Karten selbst, im Installationsraum, in der Welt-Stadt das Zusammen- oder auch Nebeneinanderexistieren verschiedenster Wahrnehmungen und gesellschaftlicher Prioritäten ab, die durchaus miteinander in Konflikt stehen können. Auf mehreren Maßstabsebenen kommt also das zum Tragen, was von zwei kritischen Kartographen, Denis Wood und John Krygier, die „Proposition“ der Karte genannt wurde: sie ist zunächst ein Aussagesatz in graphischer Form. Dabei wird etwas Benanntes und qualitativ Bestimmtes mit einem Ort in einer kartographischen Zeigefläche verbunden, also „positioniert“. „Proposition“ bedeutet aber auch, den mehr oder weniger nachdrücklich oder einladend vorgetragenen Vorschlag, die Weltwahrnehmung der kartographischen Aussage als eigene zu übernehmen.

Wir wiederum lesen den Vorschlag, Karten als „Propositionen“ aufzufassen so, dass praktizierte kritische Kartographie nicht nur die Multiplikation von Gegen-Kartographien bedeutet, sondern die epistemologischen Bedingungen der Kartographie konkret erfahrbar macht – und dazu gehört grundsätzlich die Ambivalenz von entkörperlichter Beobachtung und kartographischer Immersion, welche Karten als soziale Möglichkeitsräume von vielschichtiger Zeitlichkeit erschließt. Die Losung für unsere Klang-Karte ist dementsprechend: in einer prekären Gemeinsamkeit vor und „in“ der Karte zu sein, und nicht: andere hineinzukartieren. Vielmehr geht es darum, sie zu Wort und Klang kommen zu lassen, und zwar nicht nur die menschlichen Stadtbewohner, per Interview und vorgelesenen schriftlichen Zeugnissen, sondern auch die hörbaren Spuren ihrer Bewegungen, Dingspuren, welche die Stadt als Funktion erst konstituieren – als kartographischen Tonkörper.

Regeln der Kunst und Spiel der Wissenschaften

von Julio Velasco

Les voi.es.x de la carte/Tonkörper Berlin ist sowohl eine Ausstellung als auch eine Installation, die versucht, Kunst und Geistes- und Sozialwissenschaften miteinander in Verbindung zu bringen, indem sie ein Dutzend Projekte mit Bezug zur Stadt Berlin zusammenstellt, die von Doktoranden und etablierten Forschern des Centre Marc Bloch realisiert wurden oder noch realisiert werden.

Diese Installation hat ihre Wurzeln in den Arbeiten von Konzeptkünstlern wie Sol LeWitt (zum Beispiel in seiner Serie Walldrawing), bei denen die von einem ersten Künstler festgelegte künstlerische Schöpfung anhand einer Anweisung oder eines Protokolls erfolgt, die dann von einem zweiten Künstler oder «Intervenierenden» verwirklicht oder ausgeführt werden kann, wobei auf den visuellen Bereich ein ähnliches Prinzip wie das einer Musikpartitur angewendet wird. So ist das endgültige Werk das Ergebnis der Handlungen von mindestens zwei Personen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten, wodurch nicht nur der Begriff des Autors, sondern auch der des Kunstwerks verwischt wird, da die endgültige Präsentation genauso wichtig ist wie die Anweisung, die sie definiert. Darüber hinaus kann sich jeder, ob Künstler oder nicht, diese Anweisung aneignen, um Werke zu schaffen, die alle originell sind, denn trotz eines einheitlichen Protokolls unterscheidet sich das Ergebnis bei jeder «Aktivierung».

Diese Übertragung eines Prinzips und einer Funktionsweise, die prinzipiell musikalisch sind, in die visuelle Kunst hat der zeitgenössischen bildenden Kunst viele Möglichkeiten eröffnet und in der Folge verschiedene Entwicklungen durchlaufen, die ihrerseits zu neuen, mehr oder weniger komplexen Ansätzen und Reflexionen über die Kunst geführt haben. In diese Perspektive fügt sich also das kartografische und akustische Projekt ein, das wir hier vorstellen. Im Gegensatz zu seiner Rolle in LeWitts Werken ist die Anweisung bzw. das Protokoll, obwohl es für die Installation wesentlich ist, nicht eines ihrer Ziele, sondern nur ein Mittel, das hier trotz seiner zentralen Stellung in der Gesamtheit kaum sichtbar ist. Die «Regeln», die dieses Protokoll aufstellt, garantieren, dass jedes Projekt, das an Les voi.es.x de la carte teilnimmt, seine eigene Identität behalten kann, erlauben ihm aber gleichzeitig, sich in ein größeres und komplexeres kohärentes Ganzes einzufügen, und schaffen auf diese Weise eine strukturelle Verbindung zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven, ohne dass eines von beiden sein Wesen verliert.

Die Spielregeln

Das Protokoll der präsentierten Installation ist somit das Mittel, das es der Arbeit erlaubt, Form anzunehmen. Es ist in jeder Phase, die sie durchläuft, präsent, obwohl es weder ihre Quelle noch ihr Ursprung ist, denn seine Rolle besteht darin, bereits vorhandene Elemente hervorzuheben, indem es sie sinnlich erfahrbar macht. Die Verbindungen zwischen den gezeigten Arbeiten und die Einheit des Ganzen ergeben sich also nicht aus dem Protokoll, sondern werden erst durch dieses wahrnehmbar.

Das Protokoll wurde von Marion Picker und mir zu Beginn des Projekts festgelegt und anschließend in Vorbereitungstreffen mit den potenziellen Teilnehmern diskutiert und angepasst. Im Vergleich zu der Rolle, die LeWitts Kreationen ihm zuweisen, ist das Protokoll in unserer Arbeit zum einen sehr bescheiden, da es keinen Anspruch darauf hat, Licht einzufangen, und zum anderen sehr ehrgeizig, da es versucht, dieses Licht zu sein, oder zumindest das Vehikel für dieses Licht, das es ermöglicht, eine mehrdimensionale, unterliegende Realität zu erfassen.

Die ersten beiden «Regeln» dieses Protokolls versuchen, den Rahmen der Installation zu bestimmen: Die Projekte werden von Doktoranden und etablierten Forschern des Centre Marc Bloch entwickelt oder sind in Arbeit und ihre Inhalte sind in der Stadt Berlin angesiedelt. Beide Aspekte gehen auf die in dieser deutsch-französischen Einrichtung gewonnene Erkenntnis zurück, dass es eine besonders große Anzahl von Untersuchungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften rund um diese Stadt gibt. Dies erklärt sich sowohl aus der Tatsache, dass das Zentrum seit seiner Gründung in der deutschen Hauptstadt angesiedelt ist, als auch vor allem aus der Bedeutung dieser Stadt in der zeitgenössischen Geschichte der westlichen Welt. Diese Arbeiten, die Teilstücke eines Porträts von Berlin sind, haben Verbindungen zueinander, welche Les voi.es.x de la carte hervorheben möchten, indem sie die inneren Beziehungen, die sie zueinander aufbauen, explizit machen. Diese Beziehungen bilden wiederum das «Netz» des Wissens oder einer Form des Wissens über Berlin und im weiteren Sinne über die Realität und das Imaginäre der Stadt in der westlichen Welt in der Gegenwart.

Nachdem wir also den Rahmen abgesteckt haben, der es einem Projekt ermöglicht, Teil der Ausstellung/Installation zu werden, legt das Protokoll die Elemente fest, die ihre Verbindungen wahrnehmbar machen. Wir haben für alle Projekte zwei sensible und komplementäre Formen der Präsentation festgelegt: eine visuelle und eine akustische. Die erste materialisiert sich durch die Präsenz von Karten und die zweite durch Tonaufnahmen. Beide Elemente leiten sich aus einer früheren (nicht abgeschlossenen) Forschungsarbeit in Kunst- und Sozialwissenschaften ab, die in gewissem Maße und mit vielen Transformationen der Ursprung dieser hier ist. In dieser früheren Arbeit hatte ich mir vorgenommen, die täglichen Wege der Kunstschaffenden im Berliner Bezirk Neukölln aufzuzeigen, die mit den Bewegungen der in diesem Gebiet ansässigen Migranten aus Entwicklungsländern konfrontiert waren. Der kartografische Ansatz ermöglichte es, die Tatsache zu verdeutlichen, dass jede Gruppe, obwohl sie im selben Gebiet wohnte, innerhalb dieses Gebiets ihre eigenen Räume hatte, die nur sehr punktuell mit den Räumen übereinstimmten, die von der anderen Gruppe frequentiert wurden. Dieses kartografische Element schien also ein zuverlässiges Instrument zu sein, um sowohl die Vielfalt als auch die Einheit eines Ortes darzustellen. Wir übertrugen und adaptierten es daher, indem wir jeden Teilnehmer aufforderten, die Orte, von denen aus sich seine Arbeit entwickelte, auf Karten zu platzieren.

Die Verwendung von Klangelementen wurde ebenfalls durch das Neukölln-Projekt angeregt, das Gesprächsaufnahmen vorsah, in denen die Bewohner des Viertels von ihren täglichen Wegen berichteten. Die Grundsätze des Protokolls wurden in Vorbereitungstreffen vorgeschlagen und diskutiert. Mehrere Änderungen erschienen uns notwendig. Während also die Karten (und das ist hervorzuheben) keine besonderen Probleme bereiteten, schien der akustische Aspekt Anlass zu mehreren Fragen zu geben. Viele Projekte verwendeten aufgezeichnete Interviews, aber das war bei weitem nicht bei allen der Fall, und außerdem konnten vorhandene Aufnahmen oft nicht oder nur sehr eingeschränkt verwendet werden, z.B. wegen des Schutzes der Privatsphäre. Daher bot es sich an, über bloße Gesprächszeugnisse hinauszugehen und das Klangelement auf Geräusche, Musik und jede andere akustische Komponente auszuweiten, die mit dem jeweiligen Projekt in Zusammenhang stehen konnte. Dies eröffnete neue Perspektiven für die Installation, aber auch neue Fragestellungen. Der Drang, eine Klangkomposition zu schaffen, wurde schnell offensichtlich, und wieder einmal, wie bei LeWitts Konzeptkunstprojekt, schien die Übertragung einer von der Musik verwendeten Form in einen anderen Bereich unerwartete Möglichkeiten zu eröffnen.

Um die Kakophonie zu vermeiden, die das gleichzeitige Anhören aller Aufnahmen mit sich bringt, was nicht nur anstrengend und unangenehm ist, sondern sie auch unverständlich macht, hatten wir die Möglichkeit, entweder Kopfhörer anzubieten, um das individuelle Anhören zu ermöglichen, wobei allerdings jedes Projekt vom Ganzen isoliert sein würde – oder eine andere Lösung zu finden, die den Gesamteffekt verstärken würde, auf die Gefahr hin, dass die Verbindung zwischen jedem Klang und seinem ursprünglichen Projekt verloren ginge. Schließlich entwickelten wir eine Antwort, die beide Aspekte in sich vereinte, indem wir (dank Telmo Menezes) ein Zufallssystem entwickelten, bei dem die Aufnahmen abwechselnd über eine Reihe von Lautsprechern abgespielt werden, wobei für jedes Projekt ein Lautsprecher zur Verfügung steht. Jeder Lautsprecher, der neben seinem ursprünglichen Projekt platziert ist, spielt, wenn er an der Reihe ist, die mit diesem Projekt verbundenen Klänge und nur diese, so dass jede Tonaufnahme spezifisch an ihre Quelle gebunden bleibt und nur über den ihr gewidmeten Lautsprecher übertragen wird. Dies erzeugt sowohl eine ständige Dynamik und Bewegung, die die gesamte Installation betrifft, als auch die Möglichkeit, dass jede Aufnahme eine direkte Verbindung mit dem ursprünglichen Projekt behält. Zusätzlich werden einige Male am Tag, ebenfalls nach dem Zufallsprinzip, alle Aufnahmen gemeinsam für einige Augenblicke eingeschaltet.

Die letzten Elemente des Protokolls

Sowohl die kartografischen als auch die akustischen Inhalte funktionieren auf die gleiche Weise und ermöglichen ein Spiegelbild, das vom Individuum zum Kollektiv und wieder zurück führt. Um das Ganze zu vervollständigen und die Tiefe jedes einzelnen präsentierten Beitrags zu bewahren, war es notwendig, zwei weitere Elemente in das Protokoll aufzunehmen. Das erste bestand aus begleitenden Notizen bzw. Beschriftungen. Hierbei handelt es sich um ein klassisches Verfahren, das in fast allen Ausstellungen zu finden ist, aber in unserer Installation eine besonders wichtige Rolle spielt, da es diese Beschriftungen sind, die sowohl die technischen Prinzipien jedes Projekts, aber vor allem seine wissenschaftliche Bedeutung, seine Ziele und die Umstände, unter denen es entstanden ist, sowie die Personen, die es ins Leben gerufen oder dazu beigetragen haben, erläutern und es dem Betrachter ermöglichen, die individuelle Bedeutung der verschiedenen visuellen oder akustischen Präsentationen zu verstehen.

Da die Projekte besonders umfangreich waren, bestand die Gefahr, dass diese erklärenden Elemente im Ausstellungsraum fast ebenso präsent waren wie die anderen (visuellen und akustischen) Komponenten, wodurch die Installation zu einer großen dokumentarischen Ausstellung geworden wäre. Die Kunst hat die dokumentarische Form in ihrem Bereich schon lange als gültig anerkannt und akzeptiert, doch im Fall von Les voi.es.x de la carte bestand die Gefahr, dass eine Verstärkung dieses Aspekts innerhalb der Installation die kollektive Lesart, die wir anstrebten, beeinträchtigen würde. Auch hier war die Aufrechterhaltung des Dialogs zwischen den einzelnen Projekten und der Kreation als Ganzes die grundlegende Frage unserer Arbeit. Um jedem Projekt zu ermöglichen, seine Tiefe und Komplexität zu bewahren und zu zeigen, schien es notwendig, einen – in diesem Fall virtuellen – Raum zu schaffen, in dem jeder und jede, wann immer er oder sie es wünscht, alle Elemente in Bezug auf ein bestimmtes Projekt wiederfinden kann, ohne das Verständnis der gesamten Installation im Ausstellungsraum zu beeinträchtigen: eine Webseite. In dieser Weise kann man über einen projektspezifischen QR-Code, der in der Begleitnotiz enthalten ist, direkt auf die Seite des Projekts auf der Website zugreifen und sich, wenn man möchte, alle projektbezogenen Aufnahmen anhören und die gesamte Dokumentation lesen oder ansehen. So findet auf der Website und ausgehend von den Codes, die sich in der Ausstellung wiederfinden, jedes Projekt seine Dimension und seine Autonomie wieder.

Eine kollektive und offene Kreation

Insgesamt hat das Protokoll, mit punktuellen Anpassungen, gut funktioniert und es der Installation ermöglicht, offen zu bleiben, um alle Projekte aufzunehmen, und dabei die Kohärenz des Ganzen zu bewahren. Theoretisch könnte die Anzahl der Projekte, die in diese Ausstellung integriert werden können, unbegrenzt sein und jede Arbeit, die den festgelegten «Spielregeln» folgt, hat die Möglichkeit, Teil der Installation zu werden. Natürlich verändert die Aufnahme jedes neuen Projekts, wie wir gesehen haben, die Bedeutung des Ganzen genauso, wie es die Streichung jedes einzelnen Projekts tun würde. Jedes Projekt, das an der Installation beteiligt ist, wird wiederum durch den Platz, den es in der Gesamtheit einnimmt, verändert. Die aktuelle Präsentation kann daher als Stadium und nicht als endgültiges Ergebnis betrachtet werden.
In der präsentierten Form war es der Ausstellungsort, die Galerie Alice Guy des Institut Français in Berlin, der die quantitativen Grenzen der Installation festlegte. Wir stellten schnell die Mindest- und Höchstzahl der Arbeiten fest, die dort je nach den Qualitäten des Raums vorhanden sein konnten, und legten eine Spanne von 9 bis 16 Projekten fest. Wir blieben also im Mittelfeld und präsentierten etwa ein Dutzend Arbeiten.

Diese Zahl spielte eine wichtige Rolle, um ein echtes «kollektives Schaffen» zu ermöglichen. Denn neben der Gruppe der Forscherinnen und Forscher des Centre Marc Bloch war eine sehr große Gruppe von Personen an dieser Arbeit beteiligt, darunter natürlich die Mitarbeiter des Centre selbst und des Institut Français, aber auch das Atelier Limo, das die Website erstellt hat. Besonders zu erwähnen sind auch die wesentlichen Beiträge von DilaraHadroviç auf verschiedenen Ebenen sowie von Telmo Menezes (bereits erwähnt) für die Klanginstallation, von Juliette Vignale für die Übersetzungen, von Alexandra Galindo für die Organisation und von Nikola Tietze für die gesamte Durchführung.

Aber noch weit über diese Liste hinaus, die einschließlich der Teilnehmer und der Personen aus den genannten Institutionen, die direkt bei der Durchführung des Projekts geholfen haben, mindestens 30 Namen umfasst und die als die Gruppe an vorderster Stelle definiert werden kann (was uns hier die Gelegenheit gibt, ihnen zu danken), geht der kollektive Charakter des Projekts. Die Zahl der daran beteiligten Personen muss mit drei, vier oder mehr multipliziert werden, da die meisten Arbeiten in Zusammenarbeit mit oder ausgehend von mehreren Personen oder Personengruppen durchgeführt werden, die den Gegenstand des jeweiligen Projekts bilden und gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen an der Durchführung beteiligt sind: Aussagen, Statistiken, Problemstellungen usw. Natürlich ist diese Zusammenarbeit meist nicht direkt, und einige Projekte historischer Art arbeiten mit verstorbenen Personen, andere mit anonymen Gruppen.

Das Bild eines Netzwerks ist vielleicht das treffendste, um dieses Ensemble zu beschreiben; und die Verzweigungen, die diese Einrichtung mit sich bringt, erstrecken sich manchmal über mehrere Länder und erstrecken sich über mehr als ein Jahrhundert. Hätten wir uns nicht an den von uns vorgegebenen Rahmen gehalten, d. h. an die von Forschenden des Centre Marc Bloch durchgeführten Arbeiten über Berlin, wäre die Schaffung eines wissenschaftlichen oder künstlerischen Gemeinschaftswerks dieser Größenordnung sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen und hätte einen weitaus größeren Aufwand erfordert.

Die Kunst und die Geistes- und Sozialwissenschaften

Die kollektive Dimension der Installation wirkte sich nicht nur auf ihr Protokoll und ihre materiellen Mittel aus, sondern auch auf ihre konzeptuellen Grundlagen. Unabhängig von dem Willen, der hinter ihnen stand, sind die voi.es.x auch das Ergebnis der verschiedenen Vorstellungen und Kenntnisse, die die Teilnehmer sowohl im Bereich der Kunst als auch der Wissenschaft besitzen. Bei den Vorbereitungstreffen wurde die Frage der «Kunst» aufgeworfen, und einige Leute gaben zu, dass sie diesen Aspekt der Installation nicht verstanden. Es ist jedoch sehr interessant festzustellen, dass der wissenschaftliche Wert der Installation nie in Frage gestellt wurde, zumindest nicht bei den Vorbereitungstreffen, bei denen alle Anwesenden sehr stark in diesen Forschungsbereich involviert waren.

Es war nicht einfach, Fragen zur künstlerischen Dimension des Gemeinschaftsprojekts zu beantworten, und es ist nicht auszuschließen, dass diese Dimension auch nach einem Besuch der Ausstellung für einen Teil des Publikums wenig offensichtlich bleibt. Möglicherweise rührt diese schwierige Herangehensweise zumindest teilweise von einer auch heute noch mehrheitlich vertretenen Auffassung von Kunst her (auch unter Menschen, die selbst künstlerisch arbeiten), die das Werk direkt mit der Person des Künstlers verbindet und es zu einem Ausdruck seiner Gefühle und Gedanken macht. Diese Auffassung von Kunst kam in Europa Ende des 18. Jahrhunderts auf, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschend und setzte sich im 20. Jahrhundert als «einzige» Form der Kunst durch. Sie wird jedoch zunehmend von vielen zeitgenössischen Kunstschaffenden in Frage gestellt, die in dieser Hyperindividualisierung ihrer Arbeit keinen Sinn mehr sehen und versuchen, ihr einen Begriff von Kunst als «sozialem Werkzeug» entgegenzusetzen. Dieser Wille zur «Sozialisierung» erweist sich in der Realität als weitaus schwieriger umzusetzen, als man sich vorstellen könnte, denn die Gefahr der Instrumentalisierung und Vereinnahmung der Bedürfnisse, Wünsche, Erfahrungen oder Ideen einer Gruppe zugunsten eines Kunstwerks und insbesondere seines Urhebers ist sehr real, und die Legitimität des Künstlers, im Namen von Menschen zu sprechen, die ihn um nichts gebeten haben und die in ihrer großen Mehrheit durchaus in der Lage sind, sich selbst auszudrücken, beruht auf keiner soliden oder konkreten Grundlage.

Auch wenn Lesvoi.es.x de la carte keineswegs den Anspruch hat, diese Fragen zu entscheiden, versucht die Ausstellung dennoch, klar Stellung zu beziehen. Obwohl die Installation nicht darauf abzielt, ihre Zugehörigkeit zu einem der beiden Wissensbereiche zu definieren, nimmt sie sich andererseits das Bedürfnis zu Herzen, das künstlerische Werkzeug nicht auf ein Ausdrucksmittel einer Person, des Künstlers, zu reduzieren, sondern es zu einem Instrument des kollektiven Zuhörens zu machen. Diese beiden Elemente, das Zuhören und die Kollektivität, bilden hier die Grundlage für den Austausch zwischen der Kunst einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits, da letztere, die einen entgegengesetzten Weg als die Kunst in den letzten zwei Jahrhunderten eingeschlagen haben, sich aus und durch dieses Zuhören und diese Kollektivität aufgebaut und «objektivierende» Methoden entwickelt haben, die es ermöglichen, aus diesen Elementen eine Form von Wissen zu generieren. Es bleibt jedoch durchaus möglich, in der Ausstellung zwischen den individuellen Positionen und dem kollektiven Denken hin und her zu springen und die konzeptuellen und formalen Prozesse, die von einem zum anderen führen, sichtbar zu machen.