[ Waldemar Franz Hermann Titzenthaler Berlin. Anhalter Bahnhof 1910 ]
Anfang der 1930er Jahre hat der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin (1892-1940) im Exil eine Folge von Kindheitserinnerungen geschrieben, die später unter dem Titel Berliner Kindheit um Neunzehnhundert publiziert wurde. In diesem Ausstellungsteil wird der Abschnitt „Abreise und Rückkehr“ aus der Berliner Kindheit mit dem Ort des Anhalter Bahnhofs in Berlin, an dem er zum Teil spielt, in eine Konstellation gebracht: historische Karten, Fotos und die Genese von Benjamins Text erlauben es, den Zusammenhang in einer räumlichen, metaphorischen und historischen Perspektive zu betrachten. Das Stück „Abreise und Rückkehr“ wurde in den Jahr 1932 auf Ibiza geschrieben und erstmals am 09. Februar 1933, wenige Tage nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht. Die erste Buchausgabe der Berliner Kindheit erschien 1950. Im Zentrum von „Abreise und Rückkehr“, das den Aufbruch in die Ferien und die Heimfahrt aus den Ferien über den Weg zu den verschiedenen Bahnhöfen in Berlin verbindet, findet sich der Satz: „Meist aber war in der Frühe das Ziel ein näheres. Nämlich der »Anhalter«, laut des Namens Mutterhöhle der Eisenbahnen, wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge anhalten mußten.“ Der Name „Anhalter Bahnhof“ wird aus seiner strikten geographischen Referenz gelöst und zur allgemeinen, überzeitlichen Metapher vom Anhalten der Züge enträumlicht. Der Anhalter Bahnhof wird so zur Allegorie, in der die Lokomotive des Fortschritts, die in Benjamins Zeit noch in die Ferien fuhr, zum Stillstand kommt – wofür die Ruine des Bahnhofsgebäudes, die im geteilten Berlin in einem unbeachteten Eck am Zonenrand lag, noch heute stehen kann.
Walter Benjamin, „Berliner Kindheit um 1900“ vorgelesen von Holger Brohm
Texte
Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin
Abreise und Rückkehr
Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, wenn die andern noch auf waren – war er nicht das erste Reisesignal? Drang er nicht in die Kindernacht voller Erwartung wie später in die Nacht eines Publikums der Lichtstreif unter dem Bühnenvorhang? Ich glaube, das Traumschiff, das einen damals abholte, ist oft über den Lärm der Gesprächswogen und die Gischt des Tellergeklappers vor unsere Betten geschwankt, und am frühen Morgen hat es uns abgesetzt, fiebrig, als wenn wir die Fahrt schon hinter uns hätten, die wir eben erst antreten sollten. Fahrt in einer ratternden Droschke, die den Landwehrkanal entlang fuhr und in der mir plötzlich das Herz schwer wurde. Gewiß nicht wegen des Kommenden oder des Abschieds; sondern das öde Beisammensitzen, das noch anhielt, noch dauerte, nicht vom Anhauch der Reise wie ein Gespenst vor der Morgendämmerung verflogen war, überschlich mich mit Traurigkeit. Aber nicht lange. Denn wenn der Wagen die Chausseestraße hinter sich hatte, war ich wieder mit den Gedanken unserer Bahnfahrt vorangeeilt. Seither münden für mich die Dünen Koserows oder Wenningstedts hier in der Invalidenstraße, wo den anderen die Sandsteinmassen des Stettiner Bahnhofs entgegentreten. Meist aber war in der Frühe das Ziel ein näheres. Nämlich der „Anhalter“, laut des Namens Mutterhöhle der Eisenbahnen, wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge anhalten mußten. Keine Ferne war ferner, als wo im Nebel seine Gleise zusammenliefen. Doch auch die Nähe, die mich eben noch umfangen hatte, rückte ab. Die Wohnung lag der Erinnerung verwandelt vor. Mit ihren Teppichen, die eingerollt, den Lüstern, die in Sackleinwand vernäht, den Sesseln, die überzogen waren, mit dem Halblicht, das durch die Jalousien sickerte, gab sie, indem wir eben erst den Fuß auf das Trittbrett unseres D-Zug-Wagens setzten, der Erwartung von fremden Sohlen, leisen Tritten Raum, die, vielleicht bald, über die Dielen schleifend, Diebsspuren in den Staub einzeichnen sollten, der seit einer Stunde gemächlich seine Niederlassung bezog. Daher geschah es, daß ich jedesmal als Heimatloser aus den Ferien kam. Und noch die letzte Kellerhöhle, wo die Lampe schon brannte – nicht erst zu entzünden war – schien mir beneidenswert, mit unserer Wohnung verglichen, die im Westen dunkelte. So boten bei der Heimkehr aus Bansin oder aus Hahnenklee die Höfe mir viele kleine, traurige Asyle an. Dann freilich schloß die Stadt sie wieder ein, als reue ihre Hilfsbereitschaft sie. Wenn dennoch einmal der Zug vor ihnen zögerte, so war es, weil ein Signal kurz vor der Einfahrt uns die Strecke sperrte. Je langsamer er fuhr, desto schneller zerging die Hoffnung, hinter Brandmauern der nahen Elternwohnung zu entkommen. Doch diese überzähligen Minuten, eh alles aussteigt, stehen heute noch in meinen Augen. Mancher Blick hat sie vielleicht gestreift wie in den Höfen. Fenster, die in schadhaften Mauern stecken und hinter denen eine Lampe brennt.
Walter Benjamin: "Abreise und Rückkehr", Berliner Kindheitum Neunzehnhundert, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1950, S. 31-34.